Mein Tag bei der Inneren Mission
Mira Sander ist Integrationsbeauftragte beim Jobcenter Bremen. Sie nimmt an der berufsbegleitenden Multiplikator*innen-Fortbildung zu Diversity-Management des IQ-Teilprojekts ikö-diversity teil. Die Aufforderung zum Perspektivwechsel hat sie wörtlich genommen und sich auf einen Selbsterkundungstag begeben.
Im Rahmen einer Fortbildung im Bereich Diversity durfte ich einen Selbsterkundungstag freigestalten. Um die Diversität unserer Gesellschaft zu erleben, habe ich mich für den Bereich Streetwork entschieden. Als ehemalige Integrationsfachkraft und spätere Fallmanagerin interessiert mich, ob es wohnungslosen und suchtkranken Menschen leichter fällt, mit mir zu reden, wenn ich nicht an einem Schreibtisch des Jobcenters sitze.
Im Jobcenter versuchen wir im Rahmen unseres gesetzlichen Arbeitsauftrags immer auszugleichen, was Menschen für eine erfolgreiche Arbeitsmarktintegration ‘fehlt’. Die Vorgaben im SGBII sind dabei klar und begrenzt und und entsprechen somit oft nicht dem, was die Menschen sich wünschen. Das wissen auch die Menschen auf ‚der anderen Seite‘ des Schreibtisches. Und das birgt Schwierigkeiten. Zudem öffnen Menschen sich nicht gerne, und gestehen sich ein: „Ich habe Schulden“ oder „ich habe Vorstrafen“ oder gar eine Suchterkrankung oder kein Obdach.
Der erste Schritt für eine gelungene Beratung ist in der Regel, die Menschen so anzunehmen, wie sie sind. Darum bemüht sich nicht nur das Jobcenter – die Innere Mission setzt das Tag für Tag erfolgreich um. Deshalb habe ich mir an meinem „Selbsterkundungstag“ zwei Projekte der Inneren Mission in Bremen angesehen: Erst ging es zum Wärmebus und dann weiter zum Szenetreff.
Der Wärmebus als Rückzugsort
Wer zum Wärmebus kommt hat keine feste Adresse, lebt oft auf der Straße oder kommt bei Bekannten unter. Die Anlaufstelle ist werktags von 09:00 – 12:00 Uhr für Menschen geöffnet, die häufig nicht ‘nur’ wohnungs- bzw. obdachlos, sondern auch suchtkrank sind. Manche wollen ohne den Konsum illegaler Drogen leben und substituieren bereits, andere sind noch nicht so weit. Psychische Erkrankungen kommen in vielen Biografien dazu.
Im Wärmebus ist das Verhalten klar geregelt: keine Drogen, kein Streit, keine Gewalt. Hier gibt es Tee und Kaffee, manchmal Gebäck (je nach Spendenlage) und eine Möglichkeit, sich aufzuwärmen oder gefahrlos etwas zu schlafen. Vor allem aber bietet der Bus einen geschützten Rahmen, um sich auszutauschen und zu plaudern. Ohne eigene Wohnung ist das soziale Miteinander häufig schwierig, der Umgang rau.
Im Wärmebus wirkt das alles für eine Weile vergessen. Hier bespricht man Probleme, die man hat – entweder mit Behörden, der oder dem Ex oder auch in der gegenwärtigen Beziehung.

Eigentlich habe ich an meinem Selbsterkundungstag viel mit Menschen zusammengesessen und geschnackt. Das klingt flapsig, aber die Geschichten dieser Menschen werden mich wahrscheinlich nie mehr loslassen. Geschichten von Vätern, die von ihren Kindern erzählen, die keinen Kontakt mit ihnen wollen, worunter beide Seiten letztlich leiden. Stolz zeigen sie Fotos von ihnen und erzählen, was sie alles anstellen, um ihre Kinder wenigstens einmal – heimlich – auf dem Pausenhof zu sehen. Natürlich ist das alles auch für die Kinder schwer. Ganz reflektiert erklärten mir diese Männer, dass sie hoffen, dass ihre Kinder „nicht dieselben Fehler machen (wie ich)“. Hier endet dann mein Einblick in die Lebensgeschichte und ich frage mich, ob die nächste Generation einen besseren Start ins Leben bekommt. Das werde ich natürlich nicht erfahren.
Wenn die Ressourcen fehlen
Eine andere Geschichte erzählte mir ein junger Mann von ca. 21 Jahren, der eine Katze aufgenommen hat, die ihm zugelaufen ist. Dieser Katze fehlt es an nichts, denn sie ist der einzige Bezugspunkt, den dieser junge Mann hat. Im ALGII-Regelsatz ist die Unterhaltung eines Tieres nicht vorgesehen ist, daher fällt es ihm schwer, diese Katze zu versorgen – aber er tut alles, um es dennoch hinzubekommen: Das Futter besorgt er günstig bei der Tiertafel. Eine tierärztliche Behandlung ist aber für ihn kaum erschwinglich, von einer Tierkrankenversicherung ganz zu schweigen. Auch da gibt es glücklicherweise ehrenamtliche tierärztliche Hilfsangebote, die er in Anspruch nimmt. Der junge Mann war ganz klar kein Trinker oder Konsument anderer Drogen. Er hat eindeutig die Bedürfnisse seiner Katze vor jede andere finanzielle Ausgabe gestellt.Â
Ein weiterer Mann hatte gerade eine Wohnung gefunden und wurde vom Jobcenter aufgefordert, beim Einzug seine Eigenleistung einzusetzen, so wie es das Gesetz vorgibt. Aber, ohne einen ‘Kumpel mit Transporter’ oder andere auf die er sich überhaupt verlassen kann oder die körperlich in der Lage wären zu helfen, wird das schwierig. Echte Freundschaft ist auf der Straße selten. Und das ist nur eine der fehlenden Ressourcen.
Der Szenetreff – aus dem Sichtfeld
Der Szenetreff befindet sich seit sieben Jahren am Hauptbahnhof. Er ist im Prinzip eine Eisenzaunkonstruktion, die wie ein Käfig ohne Dach wirkt. Es sind immer zwei Streetworker*innen dort, die auf Wunsch das Toilettenhäuschen auf- und nach Nutzung wieder abschließen. Es war unglaublich kalt, nass und windig am 11.02.20 und ich habe mich gefragt, wie Menschen es aushalten, sogar täglich draußen zu sein?! Eingedenk der Lage, schräg unter der Brücke, war mein erster Eindruck: Die Suchtkranken sollen aus dem Blickfeld von Haltestelle und Bahnhofsvorplatz verschwinden – ob mit oder ohne Dach; es sah alles unglaublich provisorisch aus. Die Menschen ‘hinterm Eisenzaun’ haben häufig keine Wohnung. Dazu kommen oft psychische Erkrankungen. Die meisten Menschen hier sind tendenziell jünger als die im Wärmebus. Die Stimmung ist spürbar aggressiver. Nicht unbedingt gegenüber den Streetworker*innen, aber untereinander: Es gibt viele Drohgebärden und Streitgespräche.Â

Der Szenetreff ist von ca. 12:00 – 15:00 Uhr frei zugänglich und auch hier herrschen dieselben Verhaltensregeln wie im Wärmebus. Die Kontaktpolizisten vor Ort schauen oft vorbei. Misstrauen und Anspannung zwischen Polizei und Drogensüchtigen werden fast greifbar. Selbstverständlich haben aber hier die Menschen ein großes Bedürfnis, sich auszutauschen: Viele erzählen recht Persönliches – die Älteren von Partner*innen und Familien, die sie einst hatten, und die Jüngeren von Mama und Oma. Sie erzählen auch von offenen Wunden am Körper – und in die an ihrer Seele lassen sie mich auch kurz blicken.
In beiden Einrichtungen habe ich sowohl verwahrloste als auch solche Menschen gesehen, denen man weder Wohnungslosigkeit noch Drogensucht sofort anmerken würde. Vor allem viele Frauen sind oft derart gepflegt, dass man Obdachlosigkeit oder Drogenkonsum nicht vermuten würde.
Sich sauber zu halten, ist in der Obdachlosigkeit schwer. Wenn dann noch eine Suchtproblematik dazukommt, wird es nicht leichter, weil das Hauptinteresse klar auf Befriedigung der Sucht liegt.
Dass die Mehrheit der Gesellschaft solche Lebensbiographien anscheinend lieber wegorganisieren möchte, ärgert mich nach diesem Selbsterkundungstag noch mehr als zuvor. Denn es kann in einer sozialen Gesellschaft nicht die Antwort sein, Sucht und Obdachlosigkeit einfach aus dem Sichtfeld zu verbannen.

Sucht ist eine Krankheit; ob man da nun „selbstverschuldet“ hineingekommen ist oder nicht. Wohnungs- oder Obdachlosigkeit ist ein sozialer Missstand, der sich aus vielfältigen Gründen erklärt. Nicht jeder Mensch ist gleich widerstandsfähig: Manche wirft etwas schneller aus der Bahn als andere. Um das aufgewühlte Innenleben wieder zu sortieren, muss das äußere Leben geklärt werden. Wir im Jobcenter sorgen im besten Fall dafür, dass eine Zuflucht für diese Menschen wieder möglich wird. Falls sie sich uns gegenüber genauso öffnen, wie gegenüber den Streetworker*innen von der Inneren Mission, können wir hoffentlich auch helfen.
Eine Antwort auf meine Eingangsfrage habe ich an diesem Tag ganz klar erhalten: Die Menschen gehen wesentlich offener auf mich zu, wenn ich ihnen nicht im Jobcenter begegne. Und das obwohl ich mich als Jobcenter-Mitarbeiterin zu erkennen gegeben habe. Interessant, wie sich Örtlichkeiten auf ein Gespräch oder auch auf die Gesprächsbereitschaft auswirken.
Als ich nachmittags nach Hause ging, hatte mein Mann schon das Feuer im Kaminofen angeheizt. Ein wohlig warmes Zuhause wartete auf mich wartete. Was für ein krasser Gegensatz.
Ein Gastbeitrag von Mira Sander